Nun bin ich schon wieder einen Monat in Deutschland, Zeit einen Rückblick zu wagen. Ich hatte sehr aufregende, erlebnis- und lehrreiche 10 Monate in der Ukraine und um es gleich vorweg zu sagen, ich würde es sofort wieder tun.
Ich habe Land und Leute ganz anders kennen gelernt, als es in einem Urlaub möglich ist, habe mich mit Problemen und Ansichten auseinandergesetzt, die man nur erfährt, wenn man länger da ist und habe so auch selbst neue Ansichten und Einsichten gewonnen.
Erst einmal zu ein paar blanken Zahlen. Mit dem Zug, Auto oder Bus war ich in den zehn Monaten ca. 23.000 km unterwegs, nimmt man die Flugstrecken innerhalb dieser Zeit hinzu komme ich sogar auf 37.000 Reisekilometer innerhalb von zehn Monaten. Über einen Monat, genauer gesagt 39 Nächte habe ich in Hotels oder bei Freunden in der Ukraine verbracht und genau zwei Wochen (also 14 Nächte) habe ich in Zügen oder Bussen geschlafen. Den größten Teil meiner Reisezeit habe ich in der Hauptstadt Kiew verbracht, dort war ich insgesamt zwei Wochen. Ich war ganz im Westen (Lemberg, Karpaten) und ganz im Osten (Charkiw, Donezk, Dniepopetrovsk) der Ukraine, ich war auf der Krim und in Odessa und habe somit die wichtigsten Punkte gesehen. Die ein oder andere Stadt würde mich noch sehr interessieren, aber wer weiß schon was die Zukunft bringt, vielleicht werde ich sie noch sehen.
In der Überschrift heißt es: ‚die Ukraine ist anders – Deutschland auch‘. Und genau so verhält es sich auch. Viele Dinge im ukrainischen Alltag unterscheiden sich einfach komplett vom deutschen Alltag, dass wir das als vermeintlich ‚schlecht’ beurteilen, hängt mehr mit unserer Erwartungshaltung als mit der Realität zusammen. Manche Dinge erlebe ich jetzt im Nachhinein als positiv. Um nur ein Beispiel zu nennen, ist es die Wertschätzung gegenüber Nahrungsmitteln. In der Ukraine wird auch zerdalltes, älteres Obst und Gemüse noch verkauft (selbstverständlich zu reduzierten Preisen) und auch das frische Obst wird nicht einer derartigen Auslese unterzogen wie bei uns. Kürzlich war ich im deutschen Supermarkt völlig schockiert als ein Apfel dem anderen genau glich, was nicht perfekt ist, wird bei uns aussortiert und im besten Fall noch zu Apfelmus gemacht oder eben komplett entsorgt. In der Ukraine wird das alles verwertet. Es ist schade, dass uns im Laufe der Zeit und durch unseren Reichtum dieses Bewusstsein scheinbar abhanden gekommen ist.
Ich möchte zum Abschluss keine Lobeshymne auf die Ukraine halten, denn es liegt einiges im Argen in diesem Land. Die politische Situation ist miserabel, Menschenrechte werden mehrfach verletzt (Behinderte, Schwule, politisch Gefangene) und Korruption ist bis in den Alltag hinein spürbar, selbst für Ausländer. Dennoch würde ich gern, auch in Anbetracht der präeuropameisterschaftlichen deutschen Berichterstattung, ein differenziertes Bild der Ukraine aufzeigen und zeigen, dass manche Dinge einfach nur anders sind, weder besser noch schlechter. Jenseits der Politik und des korrupten Staates gibt es nämlich noch die einfachen Menschen und die sind, wie in anderen Ländern auch, mal freundlich und mal sehr unfreundlich. Eine Beobachtung möchte ich aber hier noch kundtun, ist man mit einem Ukrainer befreundet oder gut bekannt, würde dieser alles für einen tun. So sind Freunde aus der Ukraine für mich mehrere Stunden an Ticketschaltern angestanden, weil ich es selbst nicht auf die Reihe gebracht habe, haben mir Taxis zu den unmöglichsten Zeiten gerufen, haben mir bei der Abreise den Koffer zum Bahnhof gefahren, mir mehrfach angeboten beim Umzug, etc. zu helfen, die Liste könnte beliebig weiter geführt werden. Und dieser selbstverständliche Einsatz, nicht nur mir gegenüber, sondern auch untereinander, ist in anderen Ländern schwer zu finden. In anderen Ländern zückt man, auch ich selbst, erst einmal den Terminkalender, um zu sehen, ob man helfen kann. In der Ukraine habe ich das nie erlebt und musste mich am Anfang auch erst daran gewöhnen, dass Leute so selbstverständlich helfen, selbst wenn sie dafür, zum Beispiel ihre eigene Arbeit und andere Termine verschieben.
Noch ein kurzes Statement zur EM. Klar, das mit den Hotelpreisen ist negativ zu bewerten, da gibt es auch nichts dran zu rütteln. Dass aber der ein oder andere Taxifahrer oder das ein oder andere Restaurant ein Geschäft machen will, ist wohl normal, in einem Land, das Touristen bisher kaum kennt und in welchem doch eine größere Armut herrscht als in den westlichen Industrienationen. Ich habe mit vielen Fans geredet und bin auch selbst während der EM viel herumgefahren und habe keine allzu horrenden Preise erlebt. Die meisten Fans empfanden Taxifahrten etc. als günstig und die Ukrainer im Allgemeinen als freundlich und hilfsbereit.
Selbstverständlich war die Verständigungssituation während der EM nicht immer einfach. Aber wie gesagt die Ukraine hat kaum Touristen und die Ukrainer selber kommen kaum aus ihrem Land heraus, so dass Fremdsprachenkenntnisse nicht zwingend notwendig sind für den ukrainischen Alltag. Wenn ich aber an Italienreisen aus der Kindheit zurückdenke, kann ich mich auch nicht daran erinnern, dass irgendein Italiener Englisch oder Deutsch gesprochen hätte oder dass es Schilder in mehreren Sprachen gab und trotzdem fuhren wir alle hin, ohne uns zu beschweren.
Ich habe, wie meinen vorherigen Blogeinträgen zu entnehmen ist, Positives und Negatives in der Ukraine erlebt und blicke auf eine Zeit zurück, die mich sicher geprägt und meinen Blick geschärft hat. Manche meiner Positionen hinsichtlich der Ukraine und auch Deutschlands habe ich geändert. Ich konnte an der Universität viele neue Erfahrungen sammeln und bin dankbar, dass ich so tolle und engagierte Studenten hatte. Besonders freue ich mich, dass ein Student von mir ein Stipendium für eine Deutschlandreise bekommen hat und im Anschluss daran ab nächster Woche einen Intensivkurs in Deutschland besucht.
Ich freue mich sehr wieder in Deutschland bei meiner Familie und meinen Freunden zu sein, vermisse aber die Ukraine, meine Arbeit und vor allem meine Freunde dort mehr als gedacht. Wie es beruflich weitergeht, wird sich hoffentlich bald entscheiden. Die Bewerbungs- und Entscheidungsphase ist mir unangenehm und ich bin froh, wenn sich in dieser Richtung bald etwas tut. Bevor es endgültig mit Arbeiten losgeht, werde ich noch Peru und Ecuador erkunden und freue mich schon jetzt auf dieses nächste Abenteuer.